Gunther Pohl über Flöten, Männerdomänen und den Zug der Zeit

von Klaus Härtel

Zuerst erschienen in: clarino.print, Nr. 12/2004, Seite 10 - 11

 

Nein, schmunzelt Gunther Pohl, er leide nicht darunter, dass er als Mann Flöte spiele, ein Instrument, das landläufig als "Mädcheninstrument" tituliert wird. Aber die Entwicklung zeige schon in gewisser Hinsicht: "Flötisten sterben aus." Dass so viele Mädchen Flöte spielen rühre auch daher, dass dieses Instrument dem Klavier so ein bisschen den Rang als "Instrument der höheren Tochter" abgelaufen hat.

Soloflötist Gunther Pohl ist mit Leib und Seele Bamberger Symphoniker ("Ich wollte nie die Bamberger verlassen") und ein überaus freundlicher Mensch. Ressentiments gegenüber anderen hat er nicht. Er registriert natürlich, dass weibliche Flötisten in der Mehrheit sind – vor allem in seiner Lehrtätigkeit merkt er das, denn in seiner aktuellen Klasse sind ausschließlich Frauen.

 

Aber Pohl registriert das mit einem Schulterzucken: "Die Entwicklung ist eben so." Und das sei ja nicht nur bei der Flöte der Fall. Ob Schlagzeug oder tiefes Blech – es gebe eben kaum noch Männerberufe. Ganz genauso wie außermusikalisch: "Es gibt ja auch U-Bahnführerinnen." Und seit auch die Wiener Philharmoniker hier endlich die Kurve bekommen haben, ist das Kapitel der Männerdomäne wohl endgültig vorbei. Gunther Pohl macht sich da gar keine Gedanken darüber. Höchstens darüber, dass die Geigen irgendwann in Cellistenzimmer umziehen müssen, weil die Bamberger Symphoniker ein drittes Damenzimmer brauchen. Das ganze Gerede von Gleichberechtigung und Quotenregelung ist Gunther Pohl eigentlich völlig egal. Natürlich kann man Kurven zeichnen, Statistiken führen, unterscheiden zwischen großen und kleinen Orchestern, aber – "das ist einfach so. Die Entwicklung kann man nicht aufhalten."

 

Seit 1973 lebt Gunther Pohl nun schon in Bamberg und verdient seine Brötchen als Soloflötist. Heute, in einer Zeit der Einsparungen und Streichungen im Personalbereich, Entlassungen, Orchesterauflösungen, müssten sich die Orchester doch aus einem schier unerschöpflichen Fundus bedienen können. Ferner macht auch die Globalisierung vor den Orchestern nicht Halt, international strebt alles nach Deutschland. Ist es früher leichter gewesen, einen Job bei einem renommierten Orchester zu ergattern? Gunther Pohl bestätigt dies nur zum Teil: "Sicher waren es damals nicht diese hohen Bewerberzahlen, die es heute gibt. Aber eben auch diese hohen Bewerberzahlen sagen nicht immer etwas über das Niveau aus." Letztendlich sei die Spitze relativ dünn. In Bamberg speziell, weiß der Rheinländer, hat die Messlatte immer schon sehr hoch gelegen. Früher war das sogar teilweise "richtig brutal – da musste ich in der letzten Runde mit einem Konkurrenten gemeinsam auf die Bühne – macht man heute gar nicht mehr".

 

Gunther Pohl plaudert aus dem Nähkästchen: "Wir hatten heute ein Probespiel: Englischhorn mit Verpflichtung zur 2. Oboe. Das war innerhalb von zwei Jahren das dritte Probespiel. Und heute haben 17 Leute gespielt – wir haben wieder keinen nehmen können. Wir suchen auch schon seit Jahren einen Soloklarinettisten und haben es noch immer nicht geschafft. Also es gibt viele, aber trotzdem findet man nicht so schnell welche." Technisch betrachtet sei das Gesamtniveau auf jeden Fall gestiegen. Die jungen Studenten verfügen über enorme Fingertechnik und Virtuosität – aber nicht unbedingt über musikalische Aussagekraft. "Schnellere oder bessere Finger sind wunderbar – aber es ist nicht alles. Und deswegen ist es immer noch genauso schwierig, jemand zu finden, der alle Parameter abdeckt: Ton, Vibrato, musikalische Gestaltung, Technik." Auf eine kurze Formel gebracht: Wenn man gut ist, wird man einen Job bekommen. Gestern wie heute.

 

Gunther Pohl hat zeit seiner beruflichen Laufbahn Orchesterspiel und Methodik kombiniert. Schon zwei Jahre bevor er nach Bamberg kam übernahm er in Lübeck als Nachfolger von Paul Meisen einen Lehrauftrag. Bis 1991 war er dann im hohen Norden als Honorarprofessor tätig. 18 Jahre lang ist Pohl von Bamberg nach Lübeck gefahren. "Das hat mir immer sehr viel Spaß gemacht – bis auf die Tatsache, dass es eben ein bisschen weit war." Und für ihn ist es gar keine Frage, dass beides miteinander vereinbar ist: Dozent und Soloflötist. Seit 1997 ist Pohl nun Dozent (und seit 2001 Professor) an der Hochschule für Musik Nürnberg/Augsburg.

 

Theoretiker und Praktiker in einer Person

 

Dass jemand Musiker und Dozent, Theoretiker und Praktiker in einer Person sein könnte, das war früher kaum denkbar. Pohl kann aber diese Denkweise nicht nachvollziehen: "Das finde ich heutzutage nicht mehr zeitgemäß und auch nicht gut. Glücklicherweise ist da eine Trendwende in Sicht. Es gibt in den Hochschulen immer mehr halbe Stellen. Musiker können ihre wunderbaren Positionen im Orchester behalten. Dadurch wird die Praxis in die Hochschule reingetragen." Vielleicht haben, vermutet der Flötist, die Hochschulen Angst, dass der Dozent nicht genügend da ist. "Bei einer halben Stelle ist das eigentlich kein Problem." Der Vorteil liegt auf der Hand: "Meine Studenten können nach Bamberg kommen oder nach Nürnberg, Erlangen, wo immer wir spielen. Ich finde das ideal."

 

Oftmals hört man den Vorwurf, die Hochschulen seien immer noch zu theoretisch ausgerichtet. Gunther Pohl sieht das nicht so: "Ich bin froh um jede Gehörbildungs-, Harmonielehre- oder Kontrapunktstunde, die ein Student nimmt." Sicher sei bei vielen die Begeisterung nicht groß, dort hinzugehen und eine tolle Note zu machen. Wenn in einem Fach wie Gehörbildung ein Student eine schlechte Note macht und sein Instrument gut spielt – das kann nicht ideal sein: "Wie soll er denn nachher hören, was sein Ton innerhalb des Akkordes für eine Funktion hat? Ist das jetzt eine Quinte in dem Septakkord oder spiele ich die Terz, oder spiele ich einen Mollakkord? Das muss ich doch hören. Das sagt ihm ja dann keiner mehr." Pohl ist sehr gegen einen "Fachidioten", aber es habe nie gereicht, nur sein Instrument zu spielen. Man müsse wissen, was man spielt, warum man den Triller so spielt oder so. Es ist wie so oft: die Mischung machts.

 

"Ich bilde keine Orchestermusiker aus"

 

"Es heißt immer, die Geigen würden an den Hochschulen immer noch nur als große Solisten ausgebildet. Ich hoffe, dass das nicht mehr so ist." Besagter Vorwurf ist nicht neu. Wie lehrt er denn selbst? "Ich bilde keine Orchestermusiker aus, ich bilde Flötisten aus." In dieser kurzen Beschreibung liegt allerhand Tiefe. Der ausgebildete Flötist wird dann das, was er schafft. Der muss selbstredend nicht zwingend im Orchester spielen – was er natürlich auch kann, wenn er eine Stelle bekommt. Aber auch Lehrer an der Musikschule werden schließlich gebraucht, und "wir sind ja froh, wenn der Nachwuchslehrer auch immer besser wird". Vom Solistendasein kann kein Flötist in Deutschland leben.

 

Gunther Pohl ist nach wie vor ein Schmitz-Schüler. Denn von seinem Detmolder Lehrer hat der Flötist eine Menge übernommen – allerdings modifiziert, wie er anmerkt. Hans-Peter Schmitz beispielsweise habe überhaupt nicht vorgespielt, "das war absolut extrem. Ich spiele schon ein wenig vor." Natürlich sei er von allen Lehrern ein wenig beeinflusst worden. Pohl hat auch die französische Flötenschule kennen lernen dürfen. Die "deutsche" Schule allerdings, bedauert er, gibt es nicht mehr: "Wir Deutsche sind eben so. Wir nehmen alles vom Ausland auf und versuchen es zu vermischen. Heute gibt es irgendwie einen internationalisierten Flötenklang. Fast alle spielen die gleiche Flöte und möchten so spielen wie James Galway. Das ist eigentlich schade." Gunther Pohl, ein überaus besonnener und ruhiger Zeitgenosse, holt mit seiner Kritik noch weiter aus: "Viele wollen heute immer ‚Power-Flöte’ spielen, wollen immer wahnsinnig laut spielen. Die finden das unglaublich wichtig – ist es doch gar nicht!" Pohl weiß aber auch – und deshalb bewahrt er seine Ruhe auch während des quasi ‚Aus-der-Haut-Fahrens’ –, dass das aber auch so ein Trend ist, der sich wieder ändern wird. Das macht einen Trend ja auch schließlich aus.

 

Warum hat Gunther Pohl seinerzeit eigentlich die Flöte gewählt anstatt eines ‚trendigeren’ Instruments wie etwa das Saxofon? Der Bamberger Symphoniker erklärt diese Wahl als ‚familienbegründet’. Familie Pohl war eine echte Laien-Musikerfamilie. Alle spielten ein Instrument, der Vater Gitarre, die Mutter Klavier, die Brüder Geige, die Schwester Cello. Und früher saß die ganze Familie eben noch – zum Beispiel unter dem Weihnachtsbaum – beim Blockflötenspiel zusammen. "Ich hab die Blockflöte sehr weit getrieben, habe große Triosonaten und Blockflötenkonzerte gespielt." Zur Konfirmation gabs dann die erste echte Flöte. Für heutige Verhältnisse relativ spät, aber damals gab es noch keine Kinderflöten.

 

Flötisten fallen besonders auf

 

Das Instrument bzw. die Tonerzeugung hält Gunther Pohl schon für sehr sinnlich und persönlich. Man bläst eben nicht in ein Rohr hinein, sondern nur auf der Kante wie auf einer Colaflasche. Diese Besonderheit, die die Flöte so grundlegend von anderen Blasinstrumenten unterscheidet, ist der große Vorteil – aber letztendlich auch der Nachteil. Der Vorteil besteht darin, meint Pohl, dass Flöte am Anfang doch irgendwie leichter zu spielen ist – am Anfang wohlgemerkt: "Wir Flötisten haben keine Probleme mit Rohren und Blättern, sondern nehmen einfach die Flöte wie sie ist." Und der Nachteil: "Wir können nur unseren Ton verbessern ohne Hilfe irgendeines Werkzeugs. Das meiste muss man selber machen." Und es gebe noch einen "wunderbaren Nachteil", amüsiert sich Pohl, nämlich dass der Dirigent die oberste Zeile immer so besonders gut sehen kann. "Da denke ich manchmal, dass wir immer besonders auffallen, wenn irgendwas nicht stimmt."

 

Was den Flötisten dann während des Gespräches doch ein wenig aus der Fassung bringt, ist ein einzelnes Wort: ‚Querflöte’. "Unter dieser Begriffsverwirrung", seufzt Pohl, "leide ich ein bisschen." Das Instrument heiße nun einmal Flöte. Mozarts Werk heiße schließlich ‚Konzert für Flöte und Orchester’, oder das von Prokofjew ‚Sonate für Flöte und Klavier’. Es komme immer mehr auf, dass man das Instrument Querflöte nennt: "Wann es wohl so weit ist, dass bei uns in der Orchesterliste steht: ‚Querflöte: Gunther Pohl?’ Schrecklich. In manchen Vorlesungsverzeichnissen gibt es nur noch ‚Querflötenlehrer’. Dann müssen wir alles ändern. In jeder Beethoven-Partitur steht vorne ‚Flöte’. Es ist ein Zug der Zeit. Mal sehen, wo er hingeht."